Die Sprache(n) der Comics

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Comics können als wichtiger Knotenpunkt im Netzwerk der zeitgenössischen Kultur angesehen werden, denn kein anderes Genre übt eine derartig „vermittelnde“ Funktion aus wie Comics: Sie schlagen nämlich eine Brücke zwischen Höhenkamm- und Massen- bzw. Populärkultur, zwischen Jugendlichen und Erwachsenen, zwischen Kitsch und Kunst, zwischen sozialem bzw. politischem Engagement und reiner Unterhaltung. Genau genommen sind Comics an sich das Ergebnis einer „Vermittlung“, besser gesagt einer Interaktion zwischen Text und Bild: ein Comic entsteht nämlich dann, wenn durch das Einfügen einer Sprechblase ein geschriebener Text Teil einer Zeichnung wird, wobei das bildliche und das geschriebene Element in einem ausgewogenem Zusammenspiel gleichermaßen zur Erzählung beitragen.

 

Trotz ihrer wesentlich innovativen Rolle im Bezug auf andere Kulturformen und -medien (sowohl visuelle als auch textuelle), gehören Comics zu den Phänomenen des gegenwärtigen Alltagslebens, die von der universitären Forschung vernachlässigt werden. Obwohl Comics aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven analysiert werden könnten (Literaturkritik, Kunstgeschichte, Sprachwissenschaft, Semiotik, Soziologie, Medienwissenschaft usw.), tritt man ihnen von Seiten der Universitätswelt größtenteils mit Nichtbeachtung entgegen. „Comic-Forschung“ wird nur vereinzelt praktiziert und gründet dann meistens im individuellen Interesse von einzelnen Wissenschaftlern: Comics bleiben eine „Domäne für Fans“.

 

Mangelndes wissenschaftliches Interesse muss man vor allem auch der Linguistik ankreiden: Comics entstehen aus der untrennbaren Wechselbeziehung zwischen Text und Bild, das Hauptaugenmerk der Forschung richtete sich - wenn überhaupt - auf die Analyse des visuellen Teils (beispielsweise aus semiotischer Sicht in seiner Relation zum Text), während die Untersuchung des verbalen Elements kaum Platz im Wissenschaftsbetrieb gefunden hat.

Das bestehende Forschungsdesiderat möchte dieser Workshop, der den verbalen Aspekten in den Comics gewidmet sein soll, angehen und beseitigen: Ist die Sprache in Comics wirklich so irrelevant, stereotypiert und somit des wissenschaftlichen Interesses unwürdig? Oder kann sie vielleicht als Gradmesser wenn nicht sogar als Motor für Sprachwandelerscheinungen gesehen werden? Die Bedeutung der Textsorte Comics für die Entwicklung der Gegenwartssprache(n) verdient, ausführlich untersucht zu werden, denn Comics stellen ein bislang noch unerforschtes Gebiet dar, was Sprachexperimente, fingierte Mündlichkeit, „Register“-mixing-Phänomene, lexikalischen Erfindungsgeist, sprachlichen Gebrauch von Lautsymboliken und Wortspielereien in all ihren Facetten betrifft. Comics stellen Normen sui generis für die eigene Textsortengestaltung auf, des weiteren beeinflussen sie als sprachlich besonders kreative Textsorte wie u. a. die massenmedienrelevanten Formen Werbung u. Ä. das Normgefüge der Gegenwartssprache gewissermaßen als Keimzelle oder Generator eines informellen sprachlichen Standards.

Dieser Workshop, welcher auf eine interdisziplinäre Ausrichtung besonders Wert legt, verfolgt zwei parallele Zielsetzungen: Es geht zum Einen darum, die Charakteristika der Comic-Sprache herauszuarbeiten und zu beschreiben, indem einige Konstanten ausgemacht werden sollen, die für diese Textsorte als grundlegend angesehen werden können. Im Grunde genommen soll somit die Hypothese verifiziert werden, ob eine eigene Comic-Varietät existiert, die sich von der Sprache anderer Textsorten unterscheidet, und wie die bestimmenden Charakterzüge einer solchen Comic-Sprache aussehen.

 

Eine Untersuchung der Comic-Sprache kann auf der anderen Seite nicht vom massenmedialen Charakter der Comics absehen. Deswegen muss die Frage gestellt werden, inwieweit der Comic – und vor allem seine Sprache – die eigene Leserschaft beeinflusst. Die außergewöhnlich große Verbreitung der Comics im europäischen Raum (man denke vor allem an „Traditionsländer“ wie Frankreich, Belgien, Italien, Großbritannien), wo Comics zu unterschiedlichen Zeiten von den kulturellen Institutionen ignoriert, stigmatisiert, verboten und dann doch akzeptiert (in manch seltenerem Fall sogar auch lobgepriesen) wurden, rechtfertigt nämlich die Hypothese, dass wenn auch keine direkte Einflussnahme stattfindet bzw. stattfand, so doch zumindest eine auffällig parallele Entwicklung zwischen der Comic-Sprache und den einzelnen nationalen Gegenwartssprachen zu erkennen ist.

 

Mit dem Workshop soll dann diese Comic-Sprache mit dem Werdegang und Entstehungsprozess der betreffenden Gegenwartssprachen (hauptsächlich Französisch, Englisch, Deutsch, Italienisch) in Beziehung gesetzt werden. Es soll auf diese Weise verifiziert werden, ob und inwieweit diese bestimmte sprachliche Varietät, die hier eben mit dem alltagssprachlichen Schlagwort «Comic-Sprache» etikettiert wird, sich anbietet, als eine Art Spiegel (zum Teil auch als Zerrspiegel) für die Veränderungen und Entwicklungen innerhalb der informellen Sprachregister unterschiedlicher nationaler Gegenwartssprachen zu fungieren. Außerdem wird somit das Hauptaugenmerk auf eine sprachliche Erscheinungsform gerichtet, die sich von der im klassisch-literarischen Kanon verwendeten, schriftlich fixierten Hochsprache unterscheidet.

 

Sprachkultur als Forschungsfeld ist auf eine interdisziplinäre Zusammenarbeit von Sprachwissenschaftlern, Literaturwissenschaftlern, Kultur- und Kommunikationswissenschaftlern, Soziologen, Medienexperten und Vertretern anderer angrenzender Disziplinen angewiesen. Comics bilden eine zentrale „Schnittstelle“ zwischen unterschiedlichen Medien und Textsorten und bieten sich für einen interdisziplinären Diskurs besonders an, denn nur ein interdisziplinärer Ansatz kann das Wesen von Comics als Text-Bild-Sequenz in seiner Vollständigkeit wirklich erfassen. Der Workshop ist folglich interdisziplinär ausgerichtet, nicht nur im Hinblick auf die unterschiedlichen Nationalsprachen (Französisch, Englisch, Deutsch, Italienisch), anhand derer die Comic-Sprache beleuchtet wird, sondern auch weil die Analyse von linguistischen Aspekten im Comic immer auch einen literaturwissenschaftlichen, einen semiotischen und einen kulturwissenschaftlichen Ansatz mitberücksichtigen muss, um der komplexen Wesensart des Comics als Text-Bild-Sequenz-Einheit gerecht zu werden. Wissenschaftlern unterschiedlicher Fachrichtungen und Linguisten aus unterschiedlichen Philologien soll der Workshop ein Forum bieten, um einen fruchtbaren Austausch und eine lebendige Kommunikation zu ermöglichen.  

 

In diesem Zusammenhang möchte der Workshop Die Sprache(n) der Comics also nicht nur Comic-interessierte Wissenschaftler ein Diskussionsforum bieten, sondern vielmehr Sprachwissenschaftler dazu bewegen, sich mit der Comic-Sprache auseinander zu setzen und die Wechselbeziehungen zwischen der Sprache von Comics und den informellen Registern der jeweiligen Nationalsprachen zu untersuchen. Auf diese Weise soll versucht werden, erstmalig das Thema „Comic und Sprache“ auf hohem wissenschaftlichem Niveau zu behandeln, um weitere Forschungsperspektiven zu eröffnen.

 

Der Workshop ist in mehreren Blöcken konzipiert: Es sollen zunächst die Erzähltechniken im Comic aus literaturwissenschaftlicher und semiotischer Sicht untersucht werden (am 1. Workshopstag), um dann anschließend die sprachlichen Merkmale der Varietät «Comic-Sprache» zu identifizieren und zu analysieren (am 2. Workshopstag). Mittels der Interdisziplinarität wird versucht, neue wissenschaftliche Horizonte zu öffnen und noch nicht ausgetretene Pfade – verglichen mit der „herkömmlichen“ Comic-Forschung – zu begehen. Die neue Dimension, die angestrebt wird, ergibt sich aus der Integration des sprachwissenschaftlichen Ansatzes in ein traditionelles Feld wie die Comic-Analyse. Darüber hinaus eröffnet die Betrachtung des verbalen Elements der Comics eine innovative Perspektive zur Beschreibung der Gegenwartssprachen, was wiederum einen wesentlichen Beitrag zur Sprachgeschichtsforschung liefern kann.

 


Kontakt:
Dr. Daniela Pietrini
Universität Heidelberg, Romanisches Seminar
Seminarstraße 3, 69177 Heidelberg
Tel. 06221 542749, Fax 06221 543153
daniela.pietrini@urz.uni-heidelberg.de

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Letzte Änderung: 28.05.2009
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